Als mein Mann heute auf der Suche nach besserem Wetter den Videotext einschaltete, stand da: „Heute ist Weltkautschuktag!“. Ich musste schmunzeln. Für was man nicht alles einen Tag machen kann. Aber dann weckte dieses Wort alte Gerüche und die dazugehörigen Erinnerungen. Das Botanische Museum und darin die Ecke über die mühselige Kautschukgewinnung, Ernte und Transport, das beeindruckend große Modell eines Kautschukbaumes und das Stück Kautschuk, das man anfassen und beschnuppern durfte.
Und die Schaukästen, in denen kleine, mitten in der Bewegung eingefrorene dunkelhäutige Figuren in fremdartigen Landschaften mit Ernten beschäftigt waren. Ich war etwa fünf als man mich das erste Mal hochhob, damit ich in diese Kästen schauen konnte, denn die hingen zu hoch, eine unerreichbare Welt.
Ein paar Jahre später ging ich in die Schule, und die lag genau gegenüber. Aus dem Fenster sah ich das Museum, und wenn wir früher Schluß hatten oder später Freistunden, dann schlich ich auf Zehenspitzen durch die heiligen Hallen. Es kostete keinen Eintritt, und es war außer mir selten ein Besucher da. Stille herrschte und die Geheimnisse der Jahrhunderte, nein Jahrmillionen. Denn da gab es auch einen ganzen Raum, der der Evolution gewidmet war, lebendige Modelle vom ersten Einzeller bis zum Mensch, über und unter Wassser. Dort fühlte ich mich nie allein, das war ja meine Familie, alles meine Vorfahren! Mit der Kreidezeit konnte ich mehr anfangen als mit der Kreide auf der Schultafel.
Schaukästen gab es unzählige – Dörfer in Afrika und Iglos mit Eskimos davor, die Fische brieten. Kakaoernte, Zitronenernte, Baumwollernte, daneben auch einen riesigen Baumwollballen, in den ich meinen Finger stecken konnte. Ich meinte, meine Wurzeln dort erfühlen zu können, ich war ja im Baumwolland Alabama geboren. – Das Problem mit den zu hoch hängenden Schaukästen löste meine Mutter: sie kaufte einen Hocker und stellte ihn beim Pförtner ab. Den durfte ich mir jederzeit holen und zog damit durch die Gänge, und der Pförtner, der uns beide für verrückt hielt, hatte dennoch oft ein Bonbon für mich. Ich sah lange in die aquarienähnlichen Schaukästen, und irgendwann nahmen die chinesischen Reisbauern darin ihre Hüte ab und wischten sich den Schweiß von der Stirn. Die gefrorenen Figuren wurden lebendig, warfen sich Gesprächsfetzen zu, stellten die schweren Körbe ab oder naschten von der Ernte. Ich denke, dort habe ich gelernt, überall Geschichten zu sehen. Daher kommt es, dass mir Figuren in den Kopf springen und zu leben beginnen.
Wahrscheinlich steht mein Hocker noch heute in einem staubigen Winkel des altmodischen Museums, in dem die Zeit so völlig stehengeblieben ist als gäbe es sie nicht. Aber was sind schon vierzig Jahre, wenn man an die Jahrmillionen der Evolution denkt. Der Einzeller ist immer noch meine Ur…sehr-viel-Ur-Großmutter. Die Gültigkeit bleibt, und die Erntevorgänge in den Schaukästen mögen längst nicht mehr aktuell sein – Geschichten erzählen sie noch immer.
Schöööön 🙂
Was für eine schöne Geschichte, Patricia. Noch schöner, weil sie wahr ist. Traurig aber auch, wie viele Menschen noch nie was von der Evolution gehört haben, sich selbst viel zu wichtig nehmen, dabei sind wir wirklich unbedeutende Stäubchen im Kontext des Geschehens.